EINFÜHRUNG: LEADERSHIP ALS VERHALTENSKULTUR
Führung zeigt sich nicht im Titel, sondern im Verhalten. Tag für Tag, in kleinen wie großen Entscheidungen. Genau hier liegt die Kraft von Leadership: im gelebten Vorbild. Doch was passiert, wenn dieses Verhalten unbewusst bleibt? Wenn es von schnellen, kurzfristig angenehmen, aber langfristig schädlichen Mustern geprägt ist? Genau das thematisiert Lean Leadership – und genau hier setzt unsere Metapher des “ungesunden Genusses” an.
LEAN LEADERSHIP VERSTEHEN: MEHR ALS EIN METHODENKOFFER
Lean Leadership stammt aus dem Lean Management und ist weit mehr als ein Werkzeugkasten für Effizienz. Es geht um Haltung, um die Rolle der Führungskraft als Ermöglicher, nicht als Besserwisser oder Kontrolleur. Lean Leader schaffen Strukturen, in denen Menschen eigenverantwortlich handeln können. Sie fördern, anstatt zu verordnen, sie begleiten, anstatt zu dominieren. Dabei führen sie mit Fragen, nicht mit Antworten. Und: Sie vertrauen auf die Kompetenz der anderen.
Studien zeigen, dass gerade dieses Vertrauen entscheidend für Motivation und Leistung von Mitarbeitenden ist. So belegt die Forschung von Deci & Ryan (2004) zur Selbstbestimmungstheorie, dass Autonomie, Kompetenz und soziale Eingebundenheit zentrale psychologische Grundbedürfnisse sind – und genau diese werden durch eine Lean-orientierte Führung gestärkt.

UNGESUNDER GENUSS ALS METAPHER FÜR UNREFLEKTIERTES FÜHRUNGSVERHALTEN
Stell Dir vor, eine Führungskraft steht vor einer Entscheidung im Tagesgeschäft. Die Zeit ist knapp, der Druck hoch. Der Mitarbeiter fragt nach dem nächsten Schritt. Die Versuchung ist groß, es “schnell selbst zu machen”. Man weiß ja, wie es geht. Hat es schon zig Mal gemacht. Geht schneller. Wird “richtig”. Und genau hier beginnt der ungesunde Genuss: Es fühlt sich kurzfristig gut an, stärkt das Ego, gibt Kontrolle zurück. Doch langfristig ist es fatal.
Denn: Der Mitarbeiter wird durch dieses Verhalten nicht befähigt, sondern um seine Lernchance gebracht. Seine Motivation sinkt. Er wird beim nächsten Mal eher noch unsicherer oder passiver agieren. Die Eigenverantwortung schwindet, die Abhängigkeit wächst. Und die Führungskraft gerät in einen Kreislauf der Überforderung. Das kurzfristige “Selbermachen” ist wie Zucker: schnell verfügbar, aber nicht nahrhaft. Ein ungesunder Genuss mit Nebenwirkungen.
Die Metaanalyse von Graßmann et al. (2019) bestätigt, dass der Aufbau von Eigenverantwortung und Vertrauen in die Kompetenz des Teams zentrale Wirkfaktoren für Wirksamkeit im Coaching und in der Führung darstellen. Gerade durch zu starke Einmischung von oben sinken Selbstwirksamkeit und Engagement der Mitarbeitenden.
VERHALTEN SICHTBAR MACHEN: SELBSTREFLEXION ALS SCHLÜSSEL
Der erste Schritt zu echtem Lean Leadership ist das Sichtbarmachen des eigenen Verhaltens. Welche Entscheidungen treffe ich intuitiv? Wo folge ich Bequemlichkeit statt Prinzipien? Wo nehme ich meinen Mitarbeitenden Entwicklungschancen, obwohl ich es gut meine?

Diese Reflexionsfragen können Dir dabei helfen:
- Wo neige ich dazu, zu schnell selbst zu handeln?
- Welche Aufgaben wiederholen sich immer wieder auf meinem Tisch?
- Woran erkenne ich, dass ich die Kontrolle nicht abgeben will?
- Welche Chancen habe ich, stattdessen zu begleiten und zu befähigen?
Führung bedeutet in diesem Sinne auch Selbstführung. Wer sich selbst ehrlich reflektiert, schafft die Basis für ein gesundes Führungsverhalten. Wie Amberger (2014) in ihrer Studie zu Erfolgsfaktoren im Coaching zeigt, ist Selbstreflexion eine der zentralen Einflussgrößen für nachhaltige Wirksamkeit von Führung.
LEAN LEADERSHIP IN DER UMSETZUNG: WENIGER TUN, MEHR WIRKEN
Lean Leadership bedeutet nicht, als Führungskraft nichts mehr zu tun – sondern das Richtige zu tun. Und vor allem: das Richtige den anderen zuzutrauen. Es bedeutet, Verantwortung zu übergeben, statt sie an sich zu reißen. Es heißt, mit Fragen zu führen, Raum für Fehler zu lassen, Lernprozesse zu begleiten.
Wie Du das konkret umsetzen kannst:
- Frage Mitarbeiter aktiv nach ihren Ideen, bevor Du eigene Vorschläge machst
- Investiere Zeit in die Erklärung des “Warum” statt nur des “Was”
- Schaffe kleine Experimentierräume, in denen Neues ausprobiert werden darf
- Kommuniziere Fehler als Lernchancen, nicht als Versagen
- Nutze Formulierungen wie:
- “Was schlägst du vor?”
- “Wie würdest du an die Aufgabe herangehen?”
- “Was brauchst du, um das selbst umsetzen zu können?”
Ein konkretes Beispiel:
In einem mittelständischen Produktionsunternehmen berichtet eine Teamleiterin, dass sie jahrelang selbst die Abstimmungsmeetings zwischen Produktion und Logistik moderiert hat, da es “schneller geht” und “sie den Gesamtüberblick hat”. Im Coaching wurde deutlich: Ihre Stellvertretung konnte das genauso gut – wenn auch auf eine andere Weise. Nach einer Übergabephase moderiert nun der Stellvertreter regelmäßig. Ergebnis: Die Führungskraft hat Kapazitäten für strategische Aufgaben gewonnen. Der Stellvertreter wurde sicherer und motivierter. Das Team fühlt sich stärker einbezogen. Die “ungesunde Gewohnheit” wurde durch gezielte Befähigung ersetzt.
So entsteht ein Klima, in dem Mitarbeitende sich als mitdenkend, wertvoll und kompetent erleben. Dies ist der Nährboden für Innovation, Engagement und Entwicklung.
FAZIT: VON DER GENUSSFALLE ZUR FÜHRUNGSKRAFT MIT WIRKUNG

Lean Leadership ist eine Einladung zur Verhaltensveränderung. Keine große Strategie, sondern eine bewusste Entscheidung im Alltag: zu vertrauen statt zu kontrollieren. Zu begleiten statt zu machen. Zu beobachten statt einzugreifen.
Wer sich selbst dabei ertappt, im “ungesunden Genuss” des schnellen Selbermachens zu verweilen, hat schon den ersten Schritt getan: Bewusstsein geschaffen. Der zweite Schritt ist, dieses Verhalten zu überdenken und zu verändern. Nicht sofort und nicht perfekt, aber konsequent.

Denn so wird aus kurzfristigem Genuss langfristige Wirkung. Und aus reaktiver Führung eine Kultur, die Vertrauen, Verantwortung und Entwicklung ermöglicht.
Genau dafür steht Lean Leadership. Und genau hier beginnt nachhaltige Transformation.
Deine Ines
Quellen:
- Deci, E. L., & Ryan, R. M. (2004). Handbook of Self-Determination Research. University of Rochester Press.
- Graßmann, C.; Schölmerich, F. & Schermuly, C. (2019). The relationship between working alliance and client outcomes in coaching: A meta-analysis. Human Relations.
- Amberger, B. (2014). Erfolgsfaktoren im Coaching. Coaching-Magazin.